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Zur Eröffnung der Ausstellung Josefh Delleg „Zeit–Spur“, Kunstverein Viernheim, 25.04.2025
In orientierungslosen Zeiten – in Zeiten wie diesen also – sind zwei Institutionen besonders gefragt: Comedy und Kunst. Erstere verstopft die Fernseh-Kanäle, letztere macht sich eher rar in Museen und Ausstellungen. Allerdings haben die Künstlerinnen und Künstler dort nicht viel zu lachen. Einerseits finden sie sich als vermeintlich moralische Instanzen zu Stellungnahmen aufgefordert, andererseits mit Regelwerken der politischen Korrektheit traktiert, die ihre Aussagemöglichkeiten kanalisieren wollen. Indem die künstlerische Praxis ihren schleichenden gesellschaftlichen Bedeutungsschwund durch ihr Einmischen in die politische Praxis – oder gar als politische Praxis – zu kompensieren sucht, wird sie von eben dieser in ihre Schranken gewiesen. (Und dies gilt auch für die Institutionen, die sie ausstellen.) In dieser problematischen Konstellation hat sich Josefh Delleg, seit jeher mit Mut und Geschick bewegt. Das liegt sicherlich auch daran, dass er einerseits gegenüber den Bedenklichkeiten des Zeitgeschehens mit wachem Verantwortungsbewusstsein nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, andererseits sich aber stets so auszudrücken verstand, dass seine visuellen Argumentationen vom jeweils konkreten Problemfeld, an dem sie sich festmachen, ins Allgemeine oder aber ins Individuell-Persönliche verweisen. Bei dieser Gratwanderung hat sich Josefh Delleg während der letzten Jahre in einer Vielfalt visueller Methoden artikuliert: Zeichnung und Druckgrafik, Malerei und bevorzugt Installation und Rauminszenierung gehören zu seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln.
Diese Vielfalt spiegelt auch unsere Ausstellung. Durch die unterschiedlichen Medien und Entstehungszeiten der Arbeiten gewinnt diese Werkzusammenstellung den
Charakter einer knappen Retrospektive, einer visuellen Biografie anhand ausgewählter Positionen: Kreative Spuren sind zu sehen, die Josefh Delleg im Laufe der Zeit in der Kunstwelt hinterlassen hat.
Wenngleich diese kritischen Interventionen oftmals in der Vergangenheit wurzeln, so sind sie doch stets gegenwartstauglich. Ihr Blickwinkel reicht von der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts bis zu der unserer Gegenwart. Die Zeit, die zurzeit wieder einmal aus den Fugen zu sein scheint, hinterlässt ihre Spuren: in der Welt, in der Kunst und in der Ausstellung – und nicht zuletzt auch im Künstler selbst, der sie jedoch ästhetisch zu transformieren vermag.
Nicht in jedem Fall sind die Bilder, die er dafür findet, so unmittelbar – und karikaturistisch angehaucht – wie der aktuelle Kommentar zur Keule jenes neuen Despoten, der sich damit zum Weltenhe
rrscher aufschwingt: mit dem Schlag- und Taktstock des globalen Zeitgeistes, dem Szepter selbsternannter Machtvollkommenheit, das unter dem Deckmantel des christlichen Fundamentalismus
zur Knute wird: das Männlichkeitssymbol als der Hebel, um die Welt aus den Angeln zu heben
. Doch wenn allenthalben Fake News als Wahrheiten eingebläut werden und (wie es bei Kafka heißt)
die „Lüge zur Weltordnung gemacht wird“, ist es höchste Zeit für die Kunst, ihre Verantwortung
als Korrektiv (oder zumindest als Sand im Getriebe der Unvernunft) in Anspruch zu nehmen. Denn
Baseballschläger-Land ist überall: Auch hierzulande ist das Hilfsmittel rasch zur Hand, wenn es darum geht, den eigenen Ansichten über unpassende Meinungen und Menschen Nachdruck zu verleihen.
Subtiler verläuft die Argumentation, wenn Josefh Delleg einem weniger brachialen, wenngleich nicht weniger politischen Thema auf die Spur kommt. Gespür für das, was der Zeit nottut, beweist der Künstler nämlich auch bei den beiden Bildern, die im Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit anderen Sportarten al sder des Schlagball-Präsidenten ein Grundprinzip
seiner künstlerischen Arbeit sichtbar machen: Serielles Handeln, die Wiederkehr des Gleichen,
Abläufe in getaktetem Geschehen – das sind die dynamischen Komponenten, die seit jeher den
Projekten Josefh Dellegs zugrunde liegen. Und dieses Konzept des Additiven, der Repetition, der
Multiplikation von Elementen und des dauerhaften Wandels im Stabilen durchzieht auch das Bildkonzept jenes Diptychons, das die im olympischen Großspektakel inszenierte Leibeserziehung als Indienstnahme des vermeintlich selbstzweckhaften Exerzierens für ganz andere Ziele als die des fairen Höher-Schneller-Weiter entlarvt. Denn die Repetition von Routinen und Konventionen, die unser aller Alltagsleben absichern, kommt im Sport besonders zur Anwendung. Doch zur staatskonformen Großveranstaltung mutiert, ist der Wettstreit, der die ausdauernde Einübung normierter Bewegungsabläufe von funktionaler Regelmäßigkeit und maschinenhafte Körperertüchtigung zwecks permanenter Fremd- und Selbstüberbietung zur Voraussetzung hat, seit jeher des Ersatz-Krieges,
des Kriegsersatzes verdächtig. Als Instrumentalisierung der Massen dient olympische Diszipliniertheit
einerseits der Ablenkung (im Sinne von „Brot und Spiele“), andererseits der Hinlenkung (im Sinne
von „Sportpalastrede“) auf die Ziele einer aggressiven Politik. Leni Riefenstahls Bild gewordene – und von Josefh Delleg als Bild aufgegriffene – Trainingserfolge des Jahres 1936 belegen, wie die Politisierung des Sports und die Ästhetisierung der Politik mit der Konditionierung auf
Rassenideal und Normkörper in der Katastrophe münden. Gleichschaltung zum Ornament der Masse und Unterordnung unter den Befehl eines Regelwerks sind damals wie heute Ideale autoritärer Herrschaft. „Und schon wieder tanzen sie“, nennt Josefh Delleg den Tanz um die goldene Medail
le. In der Wiederholung der sportiven Elemente und Prozesse liegt letztlich die Wiederholung der Geschichte mit der offensichtlichen Unmöglichkeit des Ausbrechens aus den Zwangsstrukturen
des kollektiven Agierens. Zugleich aber zeigt das Bildschema der Entindividualisierung, der Reduzierung der Einzelnen auf ein anonymes Rädchen im Getriebe einer perfekten Ordnung seine Gefährdung. Denn wenn nur eines der Elemente den Mut aufbrächte, würde sein Aus-der-Reihe-Tanzen das gesamte Ordnungsgefüge ins Chaos stürzen. Derselbe fatale Rhythmus aber, dem damals die Begleitmusik in den Abgrund unterlag, ist heute wieder unüberhörbar.
Schon wieder wird getanzt auf dem Vulkan: im Gleichtakt, in Reih und Glied, in jenem Rhythmus,
der Josefh Delleg seit jeher thematisch umtreibt. Und nicht fern von den Riefenstahl‘schen Standards
sind die gegenwärtig in den sogenannten sozialen Medien grassierenden Körper-Bilder, die ebenfalls die Puppen sämtlichen Geschlechts tanzen lassen, um ihre künstlichen Ideale zur Nachahmung zu empfehlen. Die Zeit-Spuren, denen sich Josefh Delleg in dieser Werkzusammenstellung annimmt, sind also auch die Spuren des Bösen (so eine frühere Titel-Formulierung): sind die Folgen des Handels von Autokraten, Demagogen und Manipulatoren. Und genau dies ist auch das Thema jener Bodeninstallation, die hier das Zentrum bildet: „Killing Fields“ zeigt die flächendeckende Barbarisierung
der heutigen Zivilisation nach gleichbleibendem Muster: zeig tjenen Strom widerstreitender Nationalismen, der sich unaufhaltsam über den Erdboden ergießt, wo er täglich neue geografische, ethnische, weltanschauliche Identitäten gebiert, die mit ihren Flaggen-Erfindungen aus
Kreuzen und Runen, Sternen und Streifen, halben Monden und ganzen Sonnen ihr politisches und religiöses Selbstverständnis artikulieren. Der Künstler hat sie hundertfach phantasievoll
nachempfunden: in einer Flut eigener Entwürfe für jene emotional besetzten Stofffetzen und Gemeinsamkeit stiftenden Signaturen, hinter denen man sich verbergen, denen man hinterhermarschieren kann. Der Boden ist ausgelegt mit hypothetischen Vorschlägen solcher Logos
, mit deren Hilfe sich die Menschheit unter dem Vorwand völkischer Zugehörigkeit die
Erde aufteilt – nie genügend Lebensraum, nie genügend Menschen.
Stück für Stück entrollt „Killing Fields“ jenen unendlich ausufernden Teppich aus Untaten, geknüpft aus
autoritären Ansprüchen, die schon immer – und gegenwärtig ganz besonders – den Globus überziehen: Paraden von Hoheitszeichen, Embleme jener territorialen Machtausübungen und Dominanzstrategien, die zu Expansion und Besetzung neigen. Auf dem Vormarsch befindet sich das Dekor der Tyrannen und Despoten, die ihre Absichten hinter buntem Flitter verbergen und ihre Opfer gern unter den Teppich kehren. Wo fiktive Flaggen imaginärer Staaten ein fröhliches Muster entfalten,
regieren die Symbole geistiger Besitzansprüche und mentaler Übergriffigkeiten:
all jener einander ausschließender, sich bekriegender Ideologien, oder – schlimmer noch –
Religionen und Theologien jeglicher Couleur. Es sind die unendlich vielfältigen, aber immer ähnlichen totalitären Konzepte, die (in Umkehrung des mephistophelischen Dilemmas) stets das Beste verheißen und doch das Übel produzieren.Im Zentrum des Ornaments wartet daher nicht der paradiesische Garten des orientalischen Teppich-Konzepts, sondern eine humanitäre Katastrophenzone, in der die kulturelle Vielfalt des prächtigen Gebildes umschlägt in ein Areal des Schreckens:
in einen Friedhof des Unfriedens. Was da am Boden liegt, deutet nicht zuletzt auch auf die
textilen Staats-Insignien, die in allen Teilen der Erde vom Volkszorn mit Füßen getreten, verbrannt oder auf andere Weise geschändet werden: Drohgebärden und Ersatzhandlungen als vermeintliche Gesten der Stärke, in Wahrheit doch nur Aktionismus aus Hilflosigkeit. Ausgangspunkt und Motivation
für das aufwändige Werk war die Ermordung der 22-jährigen Jina Mahsa Amini im
Jahr 2022 durch das Regime in Teheran – wegen unziemlicher Bekleidung. Daraus resultierte die Vorstellung eines persischen Teppichs, der trotz seiner Prächtigkeit zugleich die Schrecken des menschenverachtenden Herrschaftssystems ausdrücken sollte.
Wie dieser Teppich expandierte, sich vom Iran in die Hölle des kambodschanischen Massenmordens der 1970er-Jahre, jenen „Killing Fields“ der Roten Khmer ausweitete und schließlich an globale Zustände anknüpfte, das sehen wir hier – zusammen mit seinem Erweiterungsbau, einer Art provisorischer Architektur: einem leuchtenden Lattenverschlag, einer lichten Katakombe, welche die bleichen Schädel nicht mehr halten kann, so dass sie daraus hervorquellen und ihrer notdürftigen Behausung entwandern. „Killing Fields“: Das sind jene Felder, die ihre Totenreste wie Trophäen aufsammeln, um sie in Depots zur Schau zu stellen, bis diese ihren Inhalt nicht
mehr fassen und ihn ausspeien. Das Beinhaus entlässt seine Reliquien für eine knöcherne Botschaft an eine Zeit, deren Kopfjäger rund um den Globus rastlos damit beschäftigt sind, jene makabren Vanitas-Objekte hervorzubringen: ein materielles Menetekel, hinbuchstabiert mit dem, was von den Opfern der Machthaber übrig blieb. Die Bodenarbeit Josefh Dellegs – der die Ikonografie und Ästhetik des Totenkopfes bereits in früheren Kunstprojekten eingesetzt und auf Wirksamkeit überprüft hat – erweist sich vielfältigen Assoziationen gegenüber offen: möglicherweise auch solchen, an die der Künstler zunächst gar nicht gedacht haben mag. Vorstellbar wäre daher auch die Inszenierung jenes chinesischen Kaisers, der sich und sein Mausoleum durch den Aufmarsch einer Terrakotta-Armee
zu schützen suchte. Die begrabenen – und wieder ausgegrabenen – Krieger der zeitlosen
chinesischen Armee und die zeitlose Armee der ausgegrabenen Totenköpfe Josefh Dellegs gleichen einander: Während die erstarrt stammstehenden Uniformierten so tun, als hätten sie ihre Mission noch vor sich, haben sie die Aktivisten der „Killing Fields“ bereits hinter sich. Dennoch rücken sie von dem strahlenden Mausoleum vor, als wären sie noch am Leben: uniformiert auch in diesem finalen Stadium: „Soldaten sehn sich alle gleich / lebendig und als Leich“, sang Wolf Biermann 1965.
Der Tod ist also nicht nur ein Meister aus Deutschland, sondern auch aus vielen anderen Landstrichen: „Killing Fields“ sind heutzutage überall – an Land, aber auch auf dem Wasser. Das Mittelmeer ist gegenwärtig jene Zone, deren Opfer nicht säuberlich sortiert eingelagert werden können, sondern spurlos versinken, unsichtbar – und wohl auch folgenlos – im Mahlstrom der Geschichte. Die Zeichnungen mit dem Titel „Koordinaten“ liefern konkrete Hinweise auf Orte solchen Geschehens.
Spuren des Bösen entdeckt der Künstler aber nicht nur im Umgang der Menschen miteinander, sondern auch mit der Tierwelt. Eingepasst in diese Zeit-Spuren mit ihren Praktiken des Bösartigen findet sich auch das Theater des Stierkampfs, jener grausamen Folklore, die – ihrer mythischen Überhöhungen durch Prominenzen von Literatur und bildender Kunst zum Trotz – als nationales Volksvergnügen woanders als in seiner Ursprungsregion nur Abscheu und Entsetzen auslösen kann.
Die blutige Tradition wird – Hemingway hin, Picasso her – in Josefh Dellegs Farblithographie als ein flammendes Massaker ins Bild gesetzt. Und dann ist da noch im angrenzenden Raum jene Video-Installation, die in einem nochmals anderen Medium mit nochmals anderem Tonfall die Zeit und ihre Spuren aufgreift: „Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!“Auch dieses Bewegtbild fügt sich ein in die Leitmotivik der Ausstellung: Auch hier sind andauernde Aktivität und permanente Wiederholung – sowie die Möglichkeit ihres Ausbleibens – thematisiert; auch hier sind die Zeit-Spuren Lebens-
Spuren, sind sie Lebens-Zeichen. Denn von der Beständigkeit des Herzschlags und der zugehörigen Atmung, der Akustik des Lebendigen, ist die biologische Existenz abhängig. Die Notwendigkeit zur mechanischen Aufrechterhaltung identischer Abläufe ist hier Metapher für das Leben.
Unbekannt bleibt, wem dieses Herz, wem dieser Luftstrom, wem diese Tonspur gehört. Es ist der Pulsschlag der Zeit, dem wir alle – abhängig von den unbewussten Zwängen des Luftholens und des Blutkreislaufs – unterworfen sind. In ihrem Beharren auf ein und demselben Ablauf entwickelt die audiovisuelle Installation eine Sogwirkung, die, wenn wir uns auf sie einlassen, schließlich auf uns übergreift und unseren eigenen Rhythmus bis hin zu dessen Synchronität mit der fremden Lebensäußerung beeinflusst. Richard Wagners „Tristan und Isolde“ lieferte den entsetzten Titel-Ausruf, den die tragische Heldin angesichts des ihr drohenden Schicksals ausstößt. Denn das Herz, das Zentralorgan der biologischen Motorik, kann versagen bei äußeren Geschehnissen oder inneren Verfassungen, bei Schock oder Aufregung, bei freudigen Emotionen, aber auch Entsetzen und Schrecken. Und zu den Schrecken, bei denen Herz und Atem gefahrlaufen zu stocken,
gehören all die unübersehbaren Spuren des Bösen in der akuten Weltunordnung.
So besteht denn wohl wenig Aussicht darauf, dass Josefh Dellegs nächste Ausstellung „Spuren des Guten“ betitelt werden könnte.
Dr. Harald Kimpel
